1999: 300 Jahre Neu-Isenburg

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Rückblick auf einen Ausblick

Ein besonderer Ausblick wurde anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag Neu-Isenburgs (1954) von dem damaligen Bürgermeister Ludwig Arnoul (SPD) formuliert. Wir nutzen diesen #throwbackthursday um aufgrund der aktuellen Diskussion um die Entwicklung unserer Heimatstadt zurückzublicken. Einiges wurde gedacht, geplant und umgesetzt, manche Punkte sind nach wie vor aktuell. „Auf jeden Fall ist aus meiner Sicht spannend, sich auf diese kleine Zeitreise einzulassen und in die „gedachte Entwicklung“ Isenburgs einzutauchen.“ fasst Florian Obst, Vorsitzender der SPD Neu-Isenburg, seine Eindrücke zusammen.

Vorwort des Verfassers (1954) – Ludwig Arnoul

Vorausschauend die Entwicklung Neu-Isenburgs bis zur 300-Jahrfeier darzustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Diese Aufgabe war mir für die Festschrift gestellt. Ich habe versucht, sie zu lösen. Ob ich die Entwicklung richtig sehe, muss in späterer Zeit beurteilt werden.

Wenn ich für meine Gedanken nicht die nüchterne Form wählte, die offizielle Darstellungen oft so langweilig machen, sondern zwei Besucher der 300-Jahrfeier diese Gedanken zum Ausdruck bringen lasse, dann geschieht dies, um die Lektüre interessanter zu gestalten.

Die Darstellung gibt nur meine Gedanken als Bürger der Stadt wieder.

1999: 300 Jahre Neu-Isenburg

Dem Bahnhof südwestlich von Neu-Isenburg, der auch die Stadt Sprendlingen und die Villenkolonie Buchschlag bedient, nähert sich aus Richtung Flughafen Frankfurt/Main fast lautlos aber mit hoher Geschwindigkeit ein Zug der elektrischen Schnellbahn. Diese erst vor kurzem in Betrieb genommene Ring-Bahn verbindet den Kranz der schönen Vorstädte Frankfurts untereinander, mit dem Hauptbahnhof, dem Weltflughafen und dem Hubschrauberhafen.

Aus den Hunderten von Fahrgästen, die dem Zug entsteigen und auf die Obusse zueilen, die die umliegenden Orte mit dem Bahnhof verbinden, lösen sich zwei Männer. Ein hochgewachsener elastischer Siebziger mit weißem Haar und ein ebenso schlanker, sportlich wirkender junger Mann von etwa zwanzig Jahren. Sie steuern auf den Wagen der Obus-Linie zu, die Neu-Isenburg mit der Schnellbahn verbindet und gleichzeitig als innerstädtisches Verkehrsmittel dient.

In gutem Deutsch, aber mit unverkennbar englischem Akzent, erkundigen sich die beiden Reisenden nach dem Abgang des Obusses. Freundlich gibt der Fahrer Auskunft. Der Obus geht erst in einigen Minuten.

Unsere beiden Freunde steigen nicht sofort ein. Sie blicken sich interessiert und offenbar angenehm überrascht um. Mehrmal atmet der ältere der beiden die aus den umliegenden Wäldern strömende Luft tief ein. Erstaunt beobachtet ihn sein junger Begleiter. „Ja, lieber Bub“, sagt der Ältere, „meine Freunde aus der alten Heimat haben in ihren Briefen nicht übertrieben. Hier hat sich in 50 Jahren vieles geändert. Aber geblieben ist die Luft. Rein und würzig, wie zu der Zeit, als ich Neu-Isenburg verließ und nach Kanada ging.“ Er sog seine Lungen wieder genießerisch voll und fuhr fort: „Das ist Heimatluft, Isenburger Luft; es ist mir als hätte ich sie erst gestern geatmet. Dabei sind es fast fünfzig Jahre, seit ich zuletzt meine Lungen damit füllte. Atme diese Luft, mein Junge, genieße sie. Es ist die Luft, die Deine Väter atmeten und unsere hugenottischen Vorfahren, als sie vor 300 Jahren Neu-Isenburg gründeten.“

Die beiden stiegen ein. In rascher Fahrt ging es nach Neu-Isenburg. In einem schönen Hotel im Westen der Stadt, in der Nähe des Main-Neckar-Bahnhofes, stiegen sie ab.

In Ihrem Zimmer, mit Blick auf schönen Kiefernwald, nahm der bis dahin schweigsame Vater die Unterhaltung wieder auf. Mit spürbarer innerer Erregung sagte er: „Ich bin überrascht. Neu-Isenburg war immer schön; aber es hat sich erst in den fünfzig Jahren, in denen ich es nicht sah, zu seiner vollen Blüte entfaltet. Ich hatte es in Erinnerung wie ein junges, schönes noch nicht voll entwickeltes Mädchen. Heute ist es wie eine voll erblühte, reife Frau in ihren besten Jahren.“ Nach kurzer Zeit fuhr er fort: „Heute, mein Sohn, wollen wir uns ausruhen, von dem langen Flug und den vielen neuen Eindrücken. Morgen werden wir die Stadt unserer Väter einer genaueren Inspektion unterziehen und in den nächsten Tagen mit alten Freunden das 300jährige Jubiläum festlich begehen. Ich freue mich darauf, wie ich mich im Jahre 1949 auf das 250jährige Jubiläums freute. Es war mein letztes Fest in Deutschland. Der Sturm, der damals Europa bewegte, wehte mich nach Kanada, in eine neue Heimat, in der ich den damals in Europa fehlenden Frieden und eine Familie fand. Aber heute“ und das waren seine letzten Worte, bevor er schlafen ging, „ist es im Vereinigten Europa wieder schön und friedlich. Es würde sich lohnen, hier wieder zu leben.“

Früh am nächsten Morgen waren unsere beiden Freunde wieder auf den Beinen. Zu Fuß verließen sie zur Besichtigung Neu-Isenburgs ihr Hotel. Was sie sahen ließ den Alten immer mehr staunen:

Das Gebiet zwischen Alicestraße und Main-Neckar-Bahn nördlich der Bahnhofstraße, die in ihrer Verlängerung nach Westen in einer Überführung die Main-Neckar-Bahn kreuzt, hat sich in ein schönes Wohnviertel verwandelt. Eingestreut in den Wald, dessen Charakter als solcher nicht gelitten hat, blinken saubere Wohnhäuser in der aufgehenden Sonne. Entlang der Straße bieten städtebaulich gut gelöste Geschäfts- und Verwaltungsgebäude einen schönen Anblick.

Das Gebiet südlich der Straße zeigt ein anderes Bild. Das Waldschwimmbad prangt, wie früher, in schönen Farben, Blumen und frischem Grün. Das Restaurationsgebäude hat sich verändert. Bedingt durch den Umbau während der einstmaligen Beschlagnahme für die Besatzungstruppen, deren Anwesenheit man sich nur noch fern erinnert, hat es ein weiteres Stockwerk erhalten. Westlich, an das Schwimmbadgelände angelehnt, dehnt sich ein weiträumiges Sportfeld mit Anlagen für alle Sportarten und mit Zuschauertribünen.

Im gleichen Gebiet ist eine moderne Schule entstanden. Auch eine Zentralgarage, die hunderte von Wagen aufnehmen kann, fehlt nicht. Schwimmbad- und Sportgelände werden im Süden und Westen von der verlängerten Carl-Ulrich-Straße umschlossen. Sie führt über einen Verkehrskreisel nach Norden unter der Autobahn hin und vereinigt sich mit der von Frankfurt/Main kommenden Stresemann-Allee. Über diese Straße ist in wenigen Minuten der Hauptbahnhof zu erreichen.

Die Wohngebiete ostwärts der Alicestraße, nördlich und südlich der Bahnhofstraße sind vollkommen ausgebaut. Schöne Häuser, blühende Gärten, grüne Anlagen kennzeichnen diese Gebiete, in denen Tausende in Ruhe und Frieden wohnen.

Ein exponierter Platz ist Ecke Hugenotten-Allee / Rheinstraße entstanden. In der Anlage erhebt sich jetzt das Rathaus. Das Postamt ist um einige Stockwerke höher geworden, da die früheren Räume für die jetzige Größe der Stadt nicht mehr ausreichten.

Die Hugenotten-Allee ist nach Norden über die Friedens-Allee hinaus verlängert und hat Anschluss gefunden an die Isenburger-Schneise. Nach Süden ist diese Straße, mit einem Verkehrskreisel an der Kreuzung Bahnhofstraße, in ihrem ganzen Zuge hergestellt. Sie mündet am südlichen Ende in einem stumpfen Winkel auf die Frankfurter Straße, aber nicht direkt, sondern aufgenommen von einer Auffangstraße zur Bundestraße 3.

Das Industriegebiet im Süden der Stadt ist in seiner ganzen Ausdehnung von Industriewerken angefüllt. Sie sind über zwei Industriegleise an das Verkehrsnetz angeschlossen. Tausende von Arbeitsplätzen sind neu entstanden und bieten allen Isenburger Familien Arbeit und Brot.

Die Frankfurter Straße ist mehr denn je Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Nur noch drei- und viergeschossige Häuser finden sich darin. Geschäft reiht sich an Geschäft. Durch schöne und reichhaltige Auslagen laden sie zum Kauf ein. Am Südende erheben sich imposante Verwaltungsgebäude der angrenzenden Industriewerke. Weiträumige Flächen bilden, umrahmt von schönen Wohngebäuden, den südlichen Eingang zur Stadt.

Diese einstmalige Hauptdurchgangsverkehrsstraße trägt jetzt hauptsächlich den innerörtlichen Verkehr. Der nach Norden und Süden über Neu-Isenburg hinausgehende Verkehr bewegt sich auf einer Umgehungsstraße, die, aus den Ostteilen der Stadt Frankfurt/Main kommend, sich durch die östliche Gemarkung Isenburgs windet. Der gesamte Verkehr in der Stadt wird durch elektrische Lichtsignalanlagen gesteuert und läuft reibungslos. Radfahrwege ermöglichen auch den nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern gefahrlose Benutzungder Verkehrswege. Für Fußgänger sind einwandfrei gesicherte Straßenübergänge vorhanden.

Das alte Stadthaus in der Frankfurter Straße ist, um weitere Bauten ergänzt, zu einem Haus der Kultur und der Jugend geworden. Um den Verkehrsknotenpunkt Ecke Frankfurter Straße / Offenbacher Straße haben sich Banken gruppiert. Ihre umfangreichen Geschäftsräume und der lebhafte Verkehr darin, zeugen von dem pulsierenden Wirtschaftsleben der Stadt. Der älteste Teil Neu-Isenburgs, jener Boden, auf dem die Gründer die ersten Häuser bauten, ist in der Form, die ihm Andreas Löber, der geschickte Baumeister des Grafen Jean Phillip gab, nicht verändert. Noch immer münden auf den Marktplatz vier Haupt- und vier Nebenstraßen. Sie bilden auch jetzt noch ein Maltheserkreuz. Die in der Urzelle der Stadt während des zweiten Weltkrieges zerstörten Wohngebiete sind längst wiederaufgebaut. In Schönheit und Pflege wetteifern sie mit den neuen Gebieten in den westlichen Stadtteilen. Um den Wilhelmsplatz sind bis zum Friedhofsweg hin auch neue Wohngebiete entstanden. Und eine moderne Volksschule erhebt sich aus diesen Gebieten.

In der Siedlung Buchenbusch hat das letzte Siedlerhaus schon vor langen Jahren sein Dach erhalten. Neue Siedlerstellen sind entstanden im Raume, der im Osten begrenzt wird von einem Bogen, beginnend am südlichen Endpunkt des Försterwiesenweges und endigend am nördlichen Endpunkt des Kastanienwegs. Viele Menschen sind dort bodenständig geworden durch ein eigenes Heim mit wertvollen Nutzgärten. Die seit Generationen in diesem Teil der Gemarkung bestehenden Gärtnereien sind durch die Besiedlung nicht beeinträchtigt worden. Sie liegen mit ihren reiche Früchte tragenden Böden und Gewächshäusern eingebettet zwischen den Siedlerstellen. Sie wirken wie wertvolle Edelsteine verziert mit kleinen Perlen.

Das Juwel aber in diesem Raum der Stadt ist eine große parkartige Anlage an der schönsten Stelle, die die Gemarkung birgt. Die Grundwiesen mit ihren Wasserläufen und der Vogelschutzhecke in der Mitte sind die Erholungsstätte für Frauen, Kinder und sonstige ruhesuchende Menschen geworden. Durch die Besiedlung eines Teiles der östlichen Gemarkungsgebiete ist die ehemals einseitige Entwicklung der Stadt nach Westen organisch richtiger und insgesamt besser geworden. Der Friedhof am Fünfmorgenweg ist längst voll belegt und zur Ruhe gekommen. Er ist eine friedliche Stätte geworden und lädt zu besinnlichem Aufenthalt ein. Die Toten der Stadt werden im Waldfriedhof zwischen Kastanienweg und Offenbach-Sprendlinger-Landstraße bestattet.

Dies alles entdeckten unsere beiden kanadischen Freunde auf ihrem Weg kreuz und quer durch Isenburg. Mit vielen erklärenden Worten machte der Vater dem Sohn deutlich, wie glücklich das vergangene halbe Jahrhundert für seine Vaterstadt gewesen sein müsse, um solche Blüte zu ermöglichen. Er vergaß auch nicht den Fleiß der Bürger und die geschickte Arbeit der Stadtväter zu erwähnen. Auf dem Rückweg zum Hotel entdeckten sie noch eine Verkehrstafel. Hier fanden sie noch schöne Wege für Fußgänger und Radfahrer rund um Isenburg und zu den Gaststätten in den nahen Wäldern. Übrigens stellten sie aus dem Stadtplan fest, daß die Gemarkung nach Osten und Westen erweitert worden ist. Die Waldgaststätten Gravenbruch und Mitteldick gehören zu Neu-Isenburg. Auch die Einwohnerzahl war auf der Tafel verzeichnet: 40.000.

Müde landeten die beiden Besucher Isenburgs im Hotel. Sie waren nun schon viel vertrauter mit der Stadt ihrer Ahnen und freuten sich unbeschwerte Festtage vor sich zu haben. Sie wollten nicht versäumen, sie mit Freunden ausgiebig zu feiern.

Die 300-Jahrfeier war vorüber. Vater und Sohn aus Kanada hatten von ihren FReunden Abschied genommen. Am Vorabend ihrer Abreise saßen sie auf dem Balkon ihres Hotelzimmers. Sinnend blickte der Alte in den nahen Kiefernwald. Der Sohn sprach begeistert von den schönen Festtagen und den Freunden, die er gewonnen hatte. „Weißt du Vater“, sagte er, „ich verstehe jetzt Deine Liebe zur alten Heimat. Auch ich habe Neu-Isenburg ins Herz geschlossen und werde wieder hierher kommen.“ „Ja“ erwiderte der Vater, „es war schön, aber ich bin zu alt. Das Bild von ihm wird mir jedoch auch in meiner neuen Heimat unvergesslich sein. Weißt du übrigens, was ich am schönsten gefunden habe? Neu-Isenburg ist immer noch, was es schon früher war. „Die Stadt im Walde“; auch allen Eingemeindungsversuchen hat es widerstanden und ist ein selbstständiges Gemeinwesen geblieben. Das ehrt die Söhne seiner Gründer und ich bin stolz darauf. Wie richtig war doch das Wort, das der erste Pfarrer der Gemeinde seiner ersten Predigt zugrunde legte: „Hier ist gut sein, lasset uns Hütten bauen“.

Beide blickten noch lange schweigend und versonnen in den durch die herabsinkende Dämmerung immer dunkler werdenden Kiefernwald.